Anlässlich des hundertsten Gedenktages des Genozids an den osmanischen Christen von 1915 wurde der türkischen Intelligenzija ein Vorschlag für eine Installation im öffentlichen Raum unterbereitet: Eine Erinnerungsapparatur in Form einer digitalen Uhr im Stadtraum, die jeden Tag um 19.15 Uhr eine Stunde lang stehen bleibt. Die Sekundenanzeige des blinkenden Doppelpunktes erlischt und die digitalen Ziffern werden als jene Jahreszahl des Ereignisses lesbar, welches sich bis heute als größtes Tabu des Landes darstellt. Hiernach läuft die Uhr zum Zahlenwert des jeweilig aktuellen Jahres weiter und nimmt somit ihre alltägliche Funktion wieder auf. Im Jahr 2060 verliert die Uhr ihre Unterbrechungsfunktion und wird wiederum selbst in die Erinnerung eingehen. Somit verweisen die täglichen Pausierungen protentional auf ihre Befristetheit und bringen Fragen der historischen Gerechtigkeit und der Zukunftsverantwortung in einen situativen Zusammenhang.
Am 2. Juni 2016 beschloss der Bundestag jene Geschehnisse im Schatten des Ersten Weltkrieges als Genozid anzuerkennen. Zuvor wurde die bereits im April 2015 beschlossene Resolution zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern von den Regierungsfraktionen –aus Rücksicht auf den Partner Türkei– auf Eis gelegt.
Aus Protest gegen diese Haltung und gegen das Versteichen des hundertsten Gedenkjahres ohne nennenswerte Veränderung in der türkischen Erinnerungspolitik, wurde am letzten Tag des Gedenkjahres 2015 die eigenhändig gefertigte Uhr im Stadtraum von Berlin in Betrieb genommen.
Die im Tageszyklus hervorgehobene, werthaft-symbolisch versehene Minute ist im Gegensatz zu gegenständlichen Denkmälern immateriell und somit quasi ortsunabhängig. Gleichwohl ihr Bestimmungsort ein solcher ist, wo Deutungsgemeinschaften anzutreffen sind, die restriktiv und überindividuell wirken, entfaltet sie ihre Wirkung überall dort, wo ihre wechseldeutige Semiotik wahrgenommen wird. Das Pausieren der Erinnerungsuhr ist eine performative Setzung, die als Irritationspunkt das Individuum in seiner Alltäglichkeit sowie persönlichen Erfahrungswelt anspricht. Somit ist eine Apparatur geschaffen, die als Alltags-Taktgeber getarnt, ihre Denkmalsfunktion an praktisches Handeln knüpft: Welche Ereignis- und Möglichkeitsräume öffnen sich dem unmittelbaren und dem mittelbaren Rezipienten oder den „Gemeinschaften des Augenblicks“? Diese Frage wird jeden Tag zur selben Zeit neu verhandelt.
Erinnerungsapparatur, 2015
Stahl, Plexiglas, LED, Elektronik, Lack
200 x 80 x 50 cm